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Beschimpft, beleidigt, angegriffen
1674 politisch motivierte Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger*innen hat das Bundeskriminalamt im Jahr 2019 registriert. Und es werden mehr. Trauriger Höhepunkt: Der rechtsextremistisch motivierte Mord am Kassler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Dazu kommen nahezu sekündlich ausfällige E-Mails, Drohungen via Messenger oder sexistische Ausfälle in Sozialen Netzwerken.
"Niemand muss den Hass ertragen"
Besonders die Hasskriminalität im Internet lässt sich dabei auf drei Kernprobleme zusammenfassen: Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, Antisemitismus sowie Frauenfeindlichkeit. Diesen Phänomenen sind zwei der Gäste unseres Online-Seminars besonders ausgesetzt: Katharina Schulze, Fraktionsvorsitzende von Bündnis90/Die Grünen im Bayerischen Landtag und deren Sprecherin für Innenpolitik, und Karamba Diaby, Integrationsbeauftragter der SPD-Bundestagsfraktion und Spitzenkandidat der SPD Sachsen-Anhalt bei den Bundestagswahlen 2021. Beide erläuterten, wie hoch der Preis ist, den politisch Aktive durch Bedrohungen aller Art inzwischen zahlen müssen. Zwar helfe die Solidarität aus allen Ecken der Gesellschaft, den Hass zu verarbeiten. „Doch ertragen muss den niemand“, betont Katharina Schulze. Sie und ihre Mitarbeiterinnen bringen Bedrohungen inzwischen konsequent zur Anzeige. Auch Karamba Diaby fordert dazu auf, „immer wieder öffentlich zu machen, dass wir uns im Internet nicht in einem rechtsfreien Raum bewegen“. Gegen digital organisierten Hass würde zum Beispiel das Netzwerkdurchsetzungsgesetz helfen, und natürlich politische Bildung – eine Aussage, deren zweitem Teil Katharina Schulze zumindest uneingeschränkt zustimmen konnte.
Auch auf lokaler Ebene nehmen Beleidigungen auf offener Straße, bei Veranstaltungen und via Brief, Telefon oder digital zu. Andreas Lipp beispielsweise kandidierte für die SPD in Kerpen (Nordrhein-Westfalen) als Bürgermeister, und warb dabei auch um Stimmen von Mitbürger*innen muslimischen Glaubens. In der Folge erlebte er massive Anfeindungen. „Aus einer WhatsApp-Nachricht, die ich zur Wahlwerbung versandt hatte, wurden innerhalb eines Tages Morddrohungen von Rechtsradikalen aus der ganzen Welt“, erzählt Lipp und rät allen, denen es ähnlich ergeht: Anzeigen, was nur geht. „Denn nur, wenn all diese Vorfälle in den Statistiken auftauchen, werden die Behörden aktiv. Und unsere Parteien sollten in alle Ebenen klare Handlungsanweisungen durchgeben, wie wir uns schützen und wie sie uns dabei unterstützen können.“
WAS HELFEN KANN
Wer oder was kann also helfen, wenn ich wegen meines politischen Engagements bedroht werde? Wie kann ich mich und andere motivieren, mich dennoch politisch zu engagieren? Wie kann ich Mitstreiter*innen und Mitbewerber*innen den Rücken stärken? Diese Fragen haben wir ebenfalls diskutiert und einige Handlungsempfehlungen gesammelt. Hier ein Auszug:
- Beratungsstellen und zivile Bündnisse einbeziehen und finanziell besser ausstatten, Gesprächs- und Unterstützungsangebot für lokale Engagierte fördern
- Räume zum Austausch und zur Bildung in den eigenen Parteien schaffen, überparteiliche Bündnisse gegen Hass im Netz und zur Stärkung der Demokratie bilden
- Mehr Vielfalt in politischen Gremien, auch das Thema Geschlechterungleichheit im Hass nach vorne stellen
- Demokratiebildung und Medienkompetenz voranbringen – von den Kleinsten an, in der Schule und außerschulisch
- Kandidat*innen vorbereiten auf das, was kommen kann: Wissen an die Hand geben, wie sie mit Hassnachrichten umgehen, was sie technisch tun können, wohin sie sich wenden können
- Betroffenen Positives rückmelden, Zeichen setzen durch öffentliche Solidarität über Parteigrenzen hinweg
- Sich einmischen, und nicht einschüchtern oder entmutigen lassen
- Sensibler am Wahlkampfstand sein und laut werden, wenn unangemessene Äußerungen kommen
Weiterführende Links
Wie gefährlich leben unsere Politiker*innen? Eine Dokumentation des WDR (YouTube)