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Schicksalswahl in der Türkei: Erdoğan 6.0?
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan (geb. 1954) tritt am 14. Mai 2023 zum dritten Mal als Präsident der Türkei und zum sechsten Mal zur Wahl als türkischer Regierungschef an. Es sind die Wahlen zur 28. Großen Nationalversammlung der Türkei und gleichzeitig auch die Präsidentschaftswahlen. In den aktuellen Umfragen in der Türkei (Anfang April 2023) wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen vorhergesagt zwischen dem amtierenden Präsidenten Erdoğan und seinem Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu (1948), ein politisches Urgestein der Türkei. Präsident Erdoğan ist zudem der Spitzenkandidat der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) und Kılıçdaroğlu der der CHP (Republikanische Volkspartei). Bei den letzten Wahlen 2018 erhielt die AKP 52,6 % und die CHP 22,65 % der Stimmen. Bereits im Januar 2023 schlossen sich sechs türkische Oppositionsparteien zu einem Bündnis zusammen und stellten nach einigen parteilichen Querelen Kılıçdaroğlu zum gemeinsamen Spitzenkandidaten auf, um dadurch ihre Chancen gegen den Amtsinhaber zu verbessern.
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Erdoğans WahlvorbereitungenIn vielen internationalen Statements wurde in der Vergangenheit immer wieder darüber berichtet, dass Präsident Erdoğan seine Macht absichern würde. Mit der 2018 eingeführten Verfassungsänderung, die die Türkei von einer parlamentarischen in eine präsidiale Republik umgewandelt hatte, war es ihm möglich geworden erneut zweimal Präsident in der Türkei zu werden; nun könnte er insgesamt dreimal Präsident werden, da er bereits 2014 zum türkischen Präsidenten gewählt wurde. Als er sich 2014 zum Präsidenten wählen ließ (bereits 2007 hatte er die Verfassung dahin gehend ändern lassen, dass der Staatspräsident direkt gewählt wurde und nicht wie bisher durch die Große Nationalversammlung der Türkei), wurde schon deutlich, dass er nicht vorhatte, die Macht in der Türkei abzugeben. Nach der damaligen Verfassung durfte ein türkischer Ministerpräsident nur dreimal die Regierungsgeschäfte leiten, und nachdem er dies bereits seit 2003 getan hatte, hätte er bei den regulär angestandenen Parlamentswahlen 2015 nicht erneut als Spitzenkandidat der AKP antreten können. Dass er in der Folge die Türkei in eine präsidiale Republik verwandeln wollte, war damit eine logische Konsequenz. Obwohl er zwischen 2014-2018 „nur“ Staatschef, aber nicht Regierungschef war, wurde er dennoch international – vor allem seitens der EU – weiterhin wie der Regierungschef der Türkei behandelt (z. B. beim Aushandeln des Flüchtlingsdeals mit der EU in Brüssel im Oktober 2015).
Der Gegenkandidat Kılıçdaroğlu ist aus der internationalen Sicht wohl eher eine Notlösung, da der aussichtsreichere Herausforderer Ekrem İmamoğlu (geb. 1970) – seit 2019 Oberbürgermeister von Istanbul – im Dezember 2022 wegen angeblicher Beleidigung der Wahlkommission zu zwei Jahren Haft und einem Politikverbot verurteilt worden war.
Ursprünglich waren die Wahlen für Mitte Juni 2023 angesetzt gewesen, aber eine umgreifende Stimmung in der Türkei sprach Präsident Erdoğan das Recht ab, ein drittes Mal antreten zu dürfen. So nutze Erdoğan eine Klausel in der Verfassung (Artikel 116), wonach der Präsident, wenn seine offizielle Amtszeit noch nicht abgelaufen ist, ein weiteres Mal kandidieren kann. So verlegte er per Dekret, am 10. März 2023, die Wahlen auf den 14. Mai 2023 vor.
Bisher kannte das türkische Wahlrecht eine Sperrklausel von 10 %. Diese wurde aber am 31. März 2022 auf 7 % reduziert – aber nicht, um das Parteienspektrum im Parlament zu vergrößern, sondern um kleineren Parteien den Einzug ins Parlament zu erschweren. Denn nun werden die Sitze anhand von Prozentsätzen bestimmt, und nicht wie vorher nach erhaltenem Stimmenanteil des Bündnisses.
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Erdoğans außenpolitische OffertenPräsident Erdoğan konzentrierte sich vor allem seit 2022 auf die Außenpolitik, da er feststellen musste, dass es in der Innenpolitik kaum ein Vorankommen für ihn gab. Vor allem die hohe Inflation bereitete der türkischen Gesellschaft große Probleme. Außenpolitisch versuchte er im russischen Angriffskrieg zu vermitteln, allerdings blieben diese Initiativen bis auf einige halbherzige Anfangserfolge erfolglos. Trotzdem spielt die Türkei aus der heutigen Sicht der NATO eine wichtige Rolle, da die Türkei die größte Armee (ca. 575.000 Mann) der NATO in Europa hat, die darüber hinaus gut ausgerüstet und ausgebildet ist – ein Zustand, dem zurzeit eigentlich keine weitere NATO-Armee in Europa entspricht. Darüber hinaus liegt die Türkei am Bosporus, der Meerenge zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer: Jede russische Flottille, die ins Mittelmeer einlaufen will, muss zwingend durch den Bosporus.
Diese Unverzichtbarkeit für die NATO weiß Präsident Erdoğan zu seinen Gunsten zu nutzen; sei es mit den weitestgehend von der EU und NATO sehr übersichtlich kommentierten Einmärschen in den Irak; seiner Truppenpräsenz seit 2019 in Syrien; oder aber auch mit seinem betont brachialen Auftreten im Gasstreit mit Griechenland im Mittelmeer, wobei auch Griechenland immer wieder zur Eskalation der Situation beiträgt. Auch der Umstand, dass die Türkei weiterhin über 3,6 Millionen Flüchtlinge bei sich beherbergt und ihnen größtenteils das Weiterkommen nach Europa verwehrt, machen die guten Beziehungen von Europa zur Türkei alternativlos. Dementsprechend tritt Erdoğan auch immer wieder sehr robust gegenüber den Europäern auf (z. B. Sofa-Eklat gegenüber der EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen im April 2021).
Das Erdbeben an der türkisch-syrischen GrenzeAm 06. Februar 2023 erschütterte ein schweres Erdbeben (7,8 auf der Richter-Skala) das türkisch-syrische Grenzgebiet und hatte wohl über 52.000 Tote zur Folge. Die sehr zögerlichen Reaktionen des türkischen Staates wurden stark von den türkischen Medien und auch vom türkischen Volk kritisiert – zumal man erkannte, dass viele der Häuser nicht nach den geltenden Bauvorschriften errichtet worden waren (erdbebenfest). Offensichtlich hatte die Bauwirtschaft selbst am Bau gepfuscht, aber auch die zuständigen Behörden durch Korruption Vorschriften zur Gebäudesicherheit ausgehebelt. Auch die bereits 1999 eingeführte Erdbebensteuer wurde wohl nicht gänzlich ihrem ursprünglichen Zweck zugeführt. Ob dieses politische Versagen allerdings die Wiederwahl Präsident Erdoğans gefährden könnte, wie es in einigen internationalen Medien prophezeit wurde, ist aber in Frage zu stellen. Schließlich sollten interessierte Betrachter die Situation aus dem türkischen Blickwinkel betrachten:
- Bei den Menschen in der betreffenden Region handelt es sich vor allem um Kurden, die sich in weiten Teilen der türkischen Gesellschaft keiner großen Beliebtheit erfreuen.
- Vermeintlich schuldige türkische Bauunternehmer werden zur Zeit medienwirksam an türkischen Flughäfen verhaftet – inklusive ihrer Familien und Geldkoffern.
ResümeeDer Wahlausgang bleibt sicherlich spannend. Da in der Türkei eine Wahlpflicht besteht, wird auch die Wahlbeteiligung sehr hoch sein. Zudem ist es den in Deutschland lebenden türkischen Staatsbürgern möglich, an den türkischen Konsulaten in Deutschland wählen zu gehen, da die Türkei keine Briefwahl kennt. Diese Bevölkerungsgruppe hat größtenteils die Türkei in den 70er- oder 80er-Jahren verlassen, ein damals äußerst traditionell geprägtes Land; heute besuchen sie während ihres Urlaubs eine Türkei, die sich größtenteils darstellt wie West- und Zentraleuropa. Diese erkennbaren baulichen wie gesellschaftlichen Fortschritte fokussieren viele auf den Langzeitregierungschef Erdoğan verbinden mit ihm zudem oft nationalromantische Vorstellungen im historischen Nebel des Osmanischen Reichs.
Präsident Erdoğan wird aber vermutlich noch ein verfassungsmäßiges As im Ärmel haben, sollten die Wahlen nicht zu seinen Gunsten ausfallen. Denn eines muss man dem Machtmenschen Erdoğan attestieren: In seinen 20 Regierungsjahren hat er die politische Landschaft der Türkei umstrukturiert, ohne dabei die türkische Verfassung zu brechen. Eine solche Person kennt die Kniffe, um sich an der Macht zu halten.
Unser Experte Matthias Hofmann ist Historiker, Orientalist und Medienwissenschaftler. Für die Akademie Frankenwarte bietet er seit vielen Jahren Seminare zur Zeitgeschichte, Internationalen Beziehungen, Außen- und Sicherheitspolitik an.
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