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*pictures from moria*
Der katastrophale Brand im Camp Moria hat der europäischen Zivilgesellschaft ein weiteres Mal vor Augen geführt, wie menschenunwürdig die Lebensbedingungen an den europäischen Außengrenzen sind. Viele der Werte, für die die Europäische Union stehen will, sind zusammen mit der Hoffnung der Bewohner*innen von Moria in Flammen aufgegangen. Warum ändert sich (scheinbar) nichts im Umgang mit dem Themenkomplex Flucht, Asyl und Menschenrechte? Wo sind die politischen Alternativen – sei es auf europäischer, bundesdeutscher oder auch lokaler Ebene? Wie können die verschiedenen politischen Ebenen besser zusammenarbeiten? Und warum lassen uns die Bilder hunderttausender geflüchteter, leidender und hoffnungsloser Menschen weitestgehend kalt? Im Zuge der Ausstellung *pictures from moria – a travelling exhibition by refugees*, die vom 25. Mai bis 20. Juni 2021 in Würzburger Schaufenstern zu sehen ist, diskutierte die Akademie Frankenwarte diese Fragen mit folgenden Gästen:
- Burkard Fuchs, Integrationslotse der Stadt Würzburg und Koordinator des Projekts „SONIA“ für „sozialraumorientierte, nachbarschaftliche Integrationsarbeit“
- Anne Gödde, Referentin für Flucht und Migration in der Katholischen Erwachsenenbildung (Erzbistum Köln) und freiberufliche Dozentin für Europapolitik
- Wolfgang Grenz, seit mehr als vier Jahrzehnten für Amnesty International Deutschland aktiv, u.a. von 2011 bis 2013 als Generalsekretär und heute als Vorstandsmitglied für Geflüchtete
- Gyde Jensen (FDP), seit 2017 Mitglied des Deutschen Bundestags und dort Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe.
Eine inkonsistente Politik
Gyde Jensen erläuterte, dass der Menschenrechtsausschuss des Bundestages zumindest Anstöße zur Migrationspolitik geben kann – zum Beispiel durch ein Gespräch mit dem Frontex-Generalsekretär oder durch Anfragen an die Bundesregierung, die daraufhin Deutschlands Verantwortung für die Situation an den europäischen Außengrenzen darzulegen hatte. Einige Kernaussagen der Politikerin: „Das Recht auf ein Asylgesuch muss ermöglicht werden. Ein Besuch auf Lesbos zeigte mir auf grausame Weise, dass in Moria menschenunwürdige Verhältnisse vorliegen. Wer die Flucht nach Europa auf sich nimmt, sucht Schutz. Wir müssen die Debatte aktuell halten, stets nachfragen. Denn Migration ist eines der Zukunftsthemen. Eine Koalition der Humanitären auf EU-Ebene muss voranschreiten.“
Die Frage, weshalb sich die Menschenrechtslage an den Außengrenzen nicht verbessert, beantwortete Anne Gödde mit Verweisen auf die komplexen Zusammenarbeitsstrukturen von Kommunen, Bundesländern, Nationalstaaten und EU-Ebene. Verhindern Systemfehler eine Verbesserung der Situation von Geflüchteten? Da sind sich die Expert*innen uneins. Anne Gödde und Gyde Jensen betonten die Vermittlerrolle Deutschlands, verwiesen aber auch auf starke Eigeninteressen und zeigten auf, dass Deutschlands Position nicht konsistent ist. Dass es sich um eine „Migrationsabschiebepolitik“ handele, wurde nicht komplett verneint,. Der Schutz der Außengrenzen sei das einzige Ziel, auf das sich alle EU-Staaten einigen könnten. „Deutschland zumindest ist nicht auf die gezielte Herbeiführung schlechter Bedingungen aus", meint Gyde Jensen, „und muss daher auf die Einhaltung der europäischen Werte pochen“.
Bewusste Verantwortungslosigkeit?
Wolfgang Grenz erläuterte die Basis der Arbeit von Amnesty International (AI) und stellte die Errungenschaften der Genfer Flüchtlingskonvention dar, die seit 70 Jahren existiert. „Heute könnte eine solche Erklärung kaum noch so formuliert werden“, meint Grenz. Für AI ist die derzeitige Arbeit von Frontex nicht akzeptabel, er verwies auf Beweise für Rückführungen und nicht erfolgte Asylgesuchsprüfungen. Da viele Kommunen zur Aufnahme bereit seien, sollte sich Deutschland stärker engagieren als bisher. In Bezug auf die kommunale Ebene, die für die Aufnahme und Versorgung der Geflüchteten zuständig ist, bilanziert Burkard Fuchs: „Die Erfahrungen der Menschen und die rechtlichen Regelungen machen die Arbeit in den Kommunen extrem schwer. Sind die Menschen in Arbeit, wird vieles leichter. Deutschland zum Beispiel braucht Lkw-Fahrer und Pflegekräfte, aber viele der Geflüchteten dürfen nicht arbeiten.“ Auf lokaler Ebene tut sich zumindest ein wenig: Der Würzburger Oberbürgermeisters Christian Schuchardt beispielsweise schrieb einen Brief an den Bischof, unterzeichnete die Erklärung "Sicherer Hafen", richtete Appelle an den Petitionsausschuss des Bayerischen Landtags und signalisierte wiederholt zusätzliche Aufnahmebereitschaft in Richtung des Bundesinnenministeriums. Der Status Quo europäischer Politik aber gleiche einer der „bewussten Verantwortungslosigkeit“.
Und wie ist das Stimmungsbild in der deutschen Gesellschaft, wie kann die Zivilgesellschaft sich aktiv für eine Verbesserung der Menschenrechtslage engagieren? Wolfgang Grenz sieht Positives: „Über 250 Städte haben sich zu sicheren Häfen erklärt. Die Aufnahmebereitschaft ist da.“ Nun müsse die Politik mutiger werden – im Sinne der Geflüchteten. Diese wiederum müssten darin gefördert werden, für sich selbst sprechen zu können und selbst politisch aktiv zu werden. Informationsarbeit und Veranstaltungen können die „bewegliche Mitte“ mobilisieren, also Menschen, die nicht in ihrer Weltsicht festgefahren sind. „Womöglich ist die Thematik gar nicht mehr so polarisierend, wie einst. Es lohnt sich also, weiter zu machen und für die Einhaltung der Menschenrechte einzutreten“, so lautete das Fazit des Abends.
Die Online-Diskussion war eine Kooperation von Akademie Frankenwarte, Bündnis für Demokratie und Zivilcourage und Ombudsrat der Stadt Würzburg - und Teil des Rahmenprogramms zur Ausstellung *pictures from moria – a travelling exhibition by refugees*. Die Ausstellungsstücke haben Künstlerinnen jund Künstler aus griechischen Flüchtlingslagern gestaltet, kuratiert wurden sie zusammen mit einer bayerischen Seenotrettungs-Organisation. Alle Informationen zu *pictures from moria – a travelling exhibition by refugees* gibt es hier.